08.09.2022: Titan aus Bronze (Tageszeitung junge Welt)

2022-09-30 21:13:21 By : Ms. Apple liu

Weiße Wolken gleiten über den Talkessel der Sierra Maestra, in dem Santiago de Cuba liegt. »Rebelde ayer, hospitalitaria hoy y heroica siempre« ist der Spruch der Stadt: »Gestern rebellisch, heute gastfreundlich und immer heldenhaft«.

In Richtung Stadtkern geht es über den Platz der Revolution, der 1991 eingeweiht wurde. In dessen Mitte das große Maceo-Monument: Nach dem Entwurf des 1950 geborenen Bildhauers Alberto Lescay Merencio gestaltet, erhebt sich die 16 Meter hohe realistische Reiterstatue aus der Abstraktion in der Natur so nicht vorhandener geometrischer Flächen und gerader Kanten. Antonio Maceo Grajeles kam 1845 in Santiago zur Welt – sein Geburtshaus kann man als Museum besichtigen. Er fiel 1896. Als Generalmajor der aufständischen »Mambises« in den antikolonialen Befreiungskämpfen ist der »bronzene Titan«, so sein Spitzname, Symbolfigur des Kampfes Kubas um Souveränität. So steht der bronzene Titan als Titan aus Bronze, der konkret aus der Idee erwächst, auch auf dem Platz der Revolution. Die Idee, das sind viele: Die aufragenden Stahlstreben vor dem Reiter erinnern an Macheten im Kampf, in eine Richtung ausgerichtet, lasch geordnet. Die Vielheit, die die nationale Befreiungsbewegung als gemeinsamer Nenner summierte. Schließlich kämpften Sklaven gemeinsam mit ihren kubanischen Besitzern gegen die Kolonialisten.

Santiago liegt zwischen Bergen und Meer. Vom geschäftigen Hafen aus, in dem mit chinesischem Geld ein Bereich für größere Schiffe ausgebaggert wurde und 2018 ein neues Frachtterminal und zwei weitere Lagerhäuser eröffnet wurden, schaut man auf das Mittelgebirge mit Kubas höchsten Erhebungen. Auf den Straßen sausen Kinder auf Rollschlitten den Hang hinab. Aus alten Getränkedosen haben sie Girlanden gebastelt, die im Sonnenschein funkeln wie Lametta.

Nur drei Häuser von unserer Unterkunft entfernt erinnert eine Plakette an den Ort, an dem der 22jährige Lehrer und Kämpfer des »Movimiento 26 de Julio« (M-26-7) Frank Isacc País García am 30. Juli 1957 auf offener Straße im Auftrag von Diktator Fulgencio Batista ermordet wurde. »Was für Ungeheuer, sie wissen nicht, welche Intelligenz, welchen Charakter, welche Integrität sie ermordet haben«, notierte Fidel Castro dazu.

Dem Trauerzug zur Beisetzung von País und weiteren ermordeten Militantes der Bewegung des 26. Juli folgte halb Santiago. Das Regime konnte nur zuschauen, Batista hatte längst die Hegemonie im Land eingebüßt.

Wie der Untergrundkampf in Santiago ausgesehen hatte, wie man etwa die Mode nutzte und Revolutionärinnen weite Röcke trugen, um darunter ihren Waffenhalfter zu verstecken, darüber erfahren wir mehr im Museo de la lucha clandestina, in einem Gebäude im Stadtteil Tivoli, im 19. Jahrhundert erbaut und ab 1951 bis zur Revolution als Polizeikommissariat genutzt. Am 30. November 1956 flogen Molotowcocktails gegen die Holzbalkone des Gebäudes. Ziel: die Aufmerksamkeit auf Santiago zu richten und von der geplanten Anlandung der Yacht »Granma« abzulenken, die mit Verzögerung erst zwei Tage später die Playa Las Coloradas erreichte. An Bord: 82 bewaffnete und trainierte Kämpfer des an den Jahrestag des Angriffs auf die Moncada erinnernden M-26-7.

Die Kaserne im Stadtkern von Santiago selbst ist jetzt eine Schule. Kinder bolzen in der prallen Sonne; wo früher exerziert wurde, pfeift der Sportlehrer ein Foul, das keins war. Das Gebäude war nach einem anderen »Mambises«-General, José Guillermo Moncada Veranes (1841–1895), benannt, die Rebellen, die sich damals von Santa Clara mit Bussen aufgemacht hatten, versuchten mit deren Erstürmung die heiße Phase der Revolution einzuläuten. Der Angriff misslang, die Überlebenden unter den Aufständischen wurden gefangengenommen, einige direkt im nächstgelegenen Krankenhaus exekutiert und dem Volk so präsentiert, als wären sie im Gefecht gefallen. Die Kommandierenden konnte Batista, der sich sonst eines Volksaufstands gewiss sein konnte, nur zu langjähriger Gefängnishaft auf der Isla de la Juventud verurteilen lassen. 1955 dann die Generalamnestie und das mexikanische Exil für die Castro-Brüder und Co., und damit die nächste Etappe der Revolution.

Früher rebellisch, heute gastfreundlich, stets heldenhaft: Hungrig werden wir abends von einer Bekannten und ihren Eltern eingeladen und bekocht. Der Aguardiente zum Verdauen trifft auf volle Mägen. Nicht, als ob Wärmen in Kubas Osten im August noch irgendwie nötig wäre.

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