Wembley-Scharmützel: So aufgeheizt ist die Stimmung vor Merkels Besuch - WELT

2021-12-29 06:41:02 By : Mr. Jarvis Zhao

Während Deutschland unter der 0:2-Niederlage gegen England bei der Fußball-EM leidet, wird in Großbritannien gefeiert. WELT-Korrespondentin Stefanie Bolzen berichtet über die Stimmung im Land.

U m kurz nach 17 Uhr Ortszeit erklang am Dienstag zuerst die deutsche Nationalhymne. Zu hören war sie aber nicht für die 1800 Fans starke Diaspora, die zur Unterstützung der Mannschaft von Joachim Löw ins Wembley-Stadion gekommen war. Wie ein Schalldämpfer legte sich das Pfeifkonzert von mehr als 40.000 englischen Fans über die Haydn-Klänge. Das folgende „God Save the Queen“ hingegen hätte Elizabeth II. vermutlich sogar im 30 Kilometer entfernten Windsor Castle hören können.

Das ist eben Fußball, mag man in Deutschland sagen. Nicht so in England, wo jede Vorlage zum Angriff auf den politischen Gegner herhalten muss. Schon am Tag vor dem Klassiker hatte der Kolumnist der „Financial Times“ prophezeit, dass „sich die Engländer heutzutage weniger durch das Match mit den Deutschen definieren als durch die Rivalität untereinander“.

Natürlich musste nach Abpfiff in Wembley jeder ein bisschen auf die Zähne beißen, der es als deutscher Inselbewohner ins „Home of Football“ geschafft hatte. „Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen!“, schallte es allen entgegen, die sich beim Verlassen des Stadions dank schwarz-rot-goldener Bemalung als Fan der Mannschaft zu erkennen gaben.

Als Deutscher konnte man den englischen Fans die Freude angesichts des 55 Jahre alten und nun überwundenen Deutschland-Traumas ruhig gönnen. Zumal die in Fremdsprachen eher mäßig bewanderten Engländer vermutlich nicht wissen, dass dieser Wiedersehen-Ruf eben genau das bedeutet: Wir sehen uns wieder!

Zu diesem Zeitpunkt hatte der Stellvertreterkrieg trotzdem bereits begonnen. In den sozialen Medien ereiferten sich auf der einen Seite des Grabens jene, die die „guten Deutschen“ gegen die „hässlichen Engländer“ glaubten verteidigen zu müssen. Die im Ausbuhen der deutschen Hymne einen erneuten Beweis des wachsenden englischen Nationalismus im Vereinigten Königreich sehen.

Und auf der anderen Seite jene, die genau diese Kritik als fehlenden Patriotismus eines pro-europäischen, den Brexit immer noch nicht akzeptierenden Establishments verhöhnen. Die den englischen Sieg noch ein bisschen länger in die deutsche Wunde reiben. „Was wäre ich gern eine Fliege an der Wand, wenn Boris Johnson am Freitag die deutsche Kanzlerin Angela Merkel trifft. Hoffentlich singt er dabei: ,Football is coming home’“, kommentierte ein Kolumnist des Massenblatts „Daily Mail“.

So geriet die englisch-deutsche Wembley-Begegnung im Handumdrehen zum Teil des neuen britischen Kulturkampfes. „Das ist nicht britisch! Das ist nicht fair“, fauchte ein Autor des „New European“, der gedruckten Heimat aller Brexit-Gegner. Zusätzlich brachte sein Lager in Rage, dass nicht wenige der englischen Fans im Anschluss an die beiden Hymnen auch noch die Spieler beider Teams ausbuhten. Diese hatten als Zeichen gegen Rassismus gemeinsam einen kurzen Kniefall gemacht. Alles Bitten des englischen Fußballverbands, der Football Association (FA), hatte offensichtlich wenig genutzt. Die FA hatte die Fans im Vorfeld gebeten „darüber nachzudenken, was das für eine Botschaft ist an die Spieler, die ihr unterstützt“, wenn bei dieser Geste Buhrufe statt Beifall ertönen.

Das politische Wembley-Scharmützel reicht dabei weit über den heiligen Rasen hinaus. Ein paar Kilometer weiter südöstlich hatte sich Boris Johnson am Dienstagabend fototauglich vor einen Bildschirm in der Downing Street postiert – an einen Mahagoni-Tisch in einem Büro gelehnt. Kein wahrer Fußballfan würde jemals 90 Minuten plus Pause plus potenzieller Nachspielzeit plus Elfmeterschießen in dieser unbequemen Körperhaltung verbringen, fielen die Johnson-Kritiker über den Regierungschef her. Er ist bekannt dafür, viel lieber Rugby oder Kricket zu schauen als Fußball. Nach dem Triumph der Engländer aber sprang er sofort auf die nationale Euphoriewelle auf und ließ ein Bild auf seine Social-Media-Kanäle setzen, auf dem er mit ausgebreiteten Armen in die Arme des Torschützen Harry Kane hineinzulaufen scheint.

Dessen Team wird nun am kommenden Samstag in Rom gegen die Ukraine antreten. „Football is coming Rome“, machte der britische Boulevard sofort aus dem nächsten englischen EM-Höhepunkt. Noch aber ist es nicht so weit. Noch beschäftigen sich die Experten und Anhänger des „beautiful game“ gar nicht so sehr mit dem Viertelfinale. Am Mittwoch stand vielmehr das überwundene Trauma im Mittelpunkt.

„55 Jahre Schmerz, aber wir haben nie aufgehört zu träumen“, schrieb das Massenblatt „The Sun“ auf seinen Titel. Wie tief die Angst vor den Deutschen auf dem Fußballplatz saß, das ließ sich aus der Breite ablesen, mit der das Land nach dem Sieg seine Erlösung vom Wembley-Fluch auslebte. „Es fühlt sich an, wie aus einem Traum in ein neues, merkwürdiges Licht zu treten“, philosophierte der „Guardian“. Der „Daily Telegraph“, langjähriger Arbeitgeber des Premierministers, zog ein Foto des EM-Helden Harry Kane über die halbe Titelseite mit der Zeile: „Endlich etwas zum Freuen.“

Nach 15 Monaten Corona-Pandemie hat der Sieg gegen Deutschland der Nation, allem politischen Zwist zum Trotz, einen Grund zum Feiern gegeben. Am 19. Juli sollen, so ist es weiterhin Plan der Regierung, in England alle Kontaktbeschränkungen fallen. Obwohl wegen der Delta-Mutation die Zahl der Covid-Infektionen im Vergleich zur Vorwoche um 73 Prozent zugenommen hat. Trotzdem ließ sich Johnson auf Druck der Uefa darauf ein, am Dienstag 45.000 Zuschauer in Wembley zu erlauben.

Beim Endspiel am 11. Juli sollen es sogar 60.000 sein. Zahlen aus Schottland bekräftigen die Sorgen. Dort lassen sich nach offiziellen Angaben knapp 2000 Corona-Fälle in Verbindung mit Spielen der EM bringen. Zwei Drittel von 1991 positiv Getesteten seien Fans, die vor zwei Wochen entgegen den Ratschlägen aus dem Norden zu Spielen nach London gereist seien, wie die Gesundheitsbehörde Public Health Scotland am Mittwoch mitteilte.

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