Flutkatastrophe: Ein Dorf zwischen Himmel und Erde

2022-07-15 18:43:32 By : Mr. Terry Tsai

Das rheinische Dorf Heimerzheim wurde bei der Flut im Juli 2021 schwer getroffen. FR-Redakteur Martin Benninghoff hat den Ort seiner Kindheit wieder besucht. Er erzählt von Heimat, Horror und Hoffnung.

Heimerzheim - Am Tag, als das Wasser stieg, gab es Himmel und Erde. Wie passend. Man muss das erklären: Himmel un Ääd, das ist das rheinische Nationalgericht mit Kartoffelstampf und Blutwurst. Im Gasthaus „Zur Linde“ im rheinischen Dorf Heimerzheim steht es für Mittwoch, den 14. Juli 2021, auf der Speisekarte. Dem Tag vor der großen Flutkatastrophe in der Region, als sich der Himmel öffnete und die Erde verwüstete, eben Himmel un Ääd.

Das Menü-Papier ist leicht vergilbt, der Schaukasten links neben dem Eingang trägt Schlammspritzer. Wie eine stehengebliebene Standuhr inmitten eines ausgebombten Hauses wirkt die Speisekarte so, als konserviere sie einen Zustand, der nicht wiederkommt. Himmel un Ääd sollte das lange Zeit letzte Gericht in dem rustikalen Gasthaus sein. Die Bratwurst mit Bohnen und Kartoffeln, geplant für den Tag darauf, kam nicht mehr auf den Tisch. Am späten Mittwochabend des 14. Juli wuchs der beschauliche Swistbach, der wenige Meter an dem Restaurant vorbeifließt, nach stundenlangen Starkregenfällen zu einem zerstörerischen Strom an, der im Ort Straßen, Mauern, Häuser, Geschäfte, Existenzen und eben auch die „Linde“ mit sich riss.

Das Dorf mit mehr als 6000 Menschen, das in Pendlernähe zu Bonn und Köln im südlichen Nordrhein-Westfalen liegt, ist seitdem ein verwundetes Dorf. Noch immer, ein Jahr nach der Katastrophe, versorgt es seine Wunden. Es ist nicht mehr wiederzuerkennen. Für die Menschen dort ist es eine Zeit des Abschieds und vieler Neuanfänge. Heimerzheim ist auch mein Dorf. Ich bin zwar schon seit mehr als 22 Jahren weg von dort, wo ich aufgewachsen und zur Schule gegangen bin. Aber einmal Erlerntes wird leicht reaktiviert, wenn sich Hinschauen wieder ergibt, weil etwas zerstört ist, von dem man dachte, es sei für die Ewigkeit in Stein gemeißelt. Mein altes Schulhaus am Swistufer: Es steht leer, verwaist, das Inventar zerstört. Aber es wird schon saniert. Nebenan ein Bauernhof, der früher mitten in der Schulstunde herübermüffelte, weshalb wir immer die Fenster geschlossen hielten. Der beißende Geruch liegt mir wieder in der Nase. Die Schafe sind in der Juli-Flut ertrunken. Der Vater des Landwirts, er soll beim Anblick der toten Tiere an einem Herzinfarkt gestorben sein. Alles scheint fragil. Die Außenmauer wird abgestützt, sonst droht der Einsturz.

Es drängen weitere Erinnerungen ins Bewusstsein: Das Geschäft Nolden, wo es buchstäblich jede Schraube, jeden Nagel, jede Mutter einzeln zu kaufen gab, und vor deren Besitzerin ich mich als Kind immer ein bisschen gefürchtet habe: weggespült und geschlossen. Einen solchen Laden wird es hier nie wieder geben. Oder das Schreibwarengeschäft Kurscheidt, früher der kommerzielle Mittelpunkt: geschlossen. Der Besitzer hat nach der Flut auf Garten- und Grabpflege umgesattelt. Passend für ein Dorf, das vergeht und gleichzeitig neu wächst. Sein Ladenlokal wird saniert, die Sparkassenfiliale, die ebenfalls überflutet war, zieht hier ein. Ob ihre Schalter und der Geldautomat jemals eine ähnliche Bedeutung für ein Kind haben werden wie einst die Comics, Pelikan-Füller und Schulranzen bei Kurscheidt?

Für die Menschen ist die Katastrophe keine Frage von banalen Kindheitserinnerungen (Nostalgie macht ja immer auch ein bisschen blind für das Neue), sondern von Gegenwart und Zukunft, kurzum: von Überleben. Thomas und Andreas Reichelt, die beiden Wirte der „Linde“, stehen neben dem Schuttcontainer vor ihrer zerstörten Gaststätte. Neben der Speisekarte und dem grünen, geschwungenen Schriftzug über der Tür ist wenig geblieben, das an das alte Lokal erinnert, nachdem das Wasser der Swist knapp zwei Meter im Erdgeschoss stand. Für sie war der Juliabend eine private Zeitenwende: „Wir waren abends zu Hause“, erzählt Thomas, der ältere der Brüder. Der Koch wohnt über dem Lokal. „Wir dachten nicht, dass es so katastrophal wird.“ Die Reichelts betreiben den 170 Jahre alten Familienbetrieb in sechster Generation, das letzte „Jahrhunderthochwasser“ 1984 hatte das Lokal nicht getroffen.

Auch deshalb waren die Brüder am Tag der Katastrophe wohl erst einmal entspannt, als das Wasser stieg. Sie organisierten zwar vorsichtshalber Sandsäcke, aber erst, als das Wasser im Laufe des späteren Abends stieg und dann schnell die Bachstraße hochkroch, wurden sie nervös. Später drückten die Wassermassen auf die massiven Mauern, die standhielten. Nicht aber die Tür, die eingedrückt wurde. Der Kampf gegen die Flut war da schon verloren, das Lokal nicht mehr zu retten, zumal der Strom ausfiel, die Pumpen nicht mehr liefen, und dann das Wasser noch von anderer Seite heranströmte. „Wir konnten am Anfang gar nicht darüber nachdenken, was aus uns wird“, sagt Thomas Reichelt. Erst der Schock der Ohnmacht, dann, als das Wasser abgelaufen und von der Feuerwehr abgepumpt worden war, der Schock beim Anblick des wahren Ausmaßes der Zerstörung.

Jetzt, ein Jahr später, stehen wir gemeinsam in ihrem Garten hinter dem Haus, das im Inneren einem Rohbau gleicht. Eine Palme wächst in der Ecke, auf den Blättern mancher Pflanzen klebt ein schmieriges Gemisch aus Schlammresten, das kaum abzuwaschen ist. Dahinter, in einer Garage, stapeln sich Bestecke, Gläser, Zapfutensilien, alles, was aus den Fluten gerettet werden konnte. Freiwillige hatten die Gegenstände, die bares Gastronomengeld wert sind, in den Wochen nach der Flut vom gröbsten Dreck gereinigt. „Eine Riesensauerei“ sei das zuvor gewesen, sagt Thomas Reichelt. Die Brüder sind dankbar für die Hilfe, aber auch ernüchtert, weil alles so viel mehr Zeit kostet als erhofft. „Wir hatten gedacht, an Ostern wieder soweit zu sein“, sagt Andreas Reichelt. Noch wissen sie nicht, ob sie in diesem Jahr wieder öffnen können. Alles zieht sich: Drinnen arbeiten Handwerker, feiner Zementstaub liegt in der Luft, die freigelegten Eisenträger stammen noch aus der alten Dorfschmiede, die erst vor wenigen Jahren geschlossen hat. Die Küche soll wieder laufen, die Vereine wieder kommen. In den Keller soll wieder die Kegelbahn. Manchmal ändert sich nichts, auch wenn sich alles ändert.

Man kann mit verschiedenen Brillen durch diesen geschundenen Ort laufen. Wer nur den Verfall sehen will, sieht nur Verfall. Wer in aller Zerstörung vor allem Chancen für den Neubeginn sieht, wird auch fündig. Unbestritten ist nur, das Dorf ändert sich, überall parken an diesem Tag die Lieferwagen von Handwerksbetrieben. Aus den Häusern, deren Fenster und Türen lange zur Trocknung offenstanden, dröhnen Schleif-, Säge- und Hammergeräusche. „Es ist eine andere Zeit“, sagt Wilfried Rang, der in Heimerzheim und dem nahegelegenen Städtchen Rheinbach zwei Fahrschulen betreibt. Und: „Man muss sich von dem Alten lösen.“ Das allerdings fiele nicht allen leicht, schon gar nicht den älteren Menschen, sagt Rang. Wer selbst keine Kraft mehr zur Erneuerung hat, den trifft die Zerstörung der gewohnten Umgebung umso härter. Viele sind weggezogen, manche Hausruinen bleiben leer. An der Swist, gegenüber meiner alten Schule, steht das verwaiste Geburtshaus einer älteren Frau, die alles verloren hat. Sie ist zu ihrer Familie gezogen und hat ihren Lebensort verlassen. Unfreiwillig.

Für andere geht es weiter, auch wenn das nicht sofort klar war. Als die Flut kam, war der Familienvater und Fahrlehrer Rang mit den letzten Urlaubsvorbereitungen beschäftigt. Nachdem das Wasser abgeflossen war, das weite Teile des Unterdorfes inklusive der katholischen Kirche in einen großen, braunen See verwandelt hatte, habe er sich gefragt, ob es das gewesen sei, für den Ort, für ihn, für sein Geschäft … Seine Antwort: nein! Der Urlaub wurde abgesagt, seine Fahrschule avancierte in den folgenden Wochen und Monaten zu einem der Anlaufpunkte für Fluthelferinnen und -helfer und Freiwillige, in der Facebook-Gruppe war Rang einer der Wortführer. Er hatte auch die Idee, den Geschäftsleuten in Not Container zu besorgen, damit der Ladenbetrieb wieder aufgenommen werden könnte, zumindest in reduzierter Form.

Andere halfen mit Geld, Wohnraum, Trocknungsgeräten, Baumaterial, kochten für die Ehrenamtler oder packten bei der Schuttentsorgung mit an. Die Solidarität dieses großen Helferkreises, so unter- oder übertrieben sie in der Nachschau auch sein mag, ist längst Teil einer neuen Erzählung im Ort geworden, die Bestand haben könnte. Das Dorf, das zu meiner Zeit immer ein Stück geteilt war zwischen den Alteingesessenen im Ortskern und denen in den Neubaugebieten, den „Zugezogenen“, könnte eine neue, integrativere Identität abseits althergebrachter Vereine oder der Kirchen erlangen, die alle miteinbezieht, die irgendwie von der Flut betroffen sind. Und das sind eigentlich alle im Ort, ob sie nun Wasser im Keller, im Wohnzimmer oder in der Nachbarschaft hatten.

Ich treffe mich mit Tobias Leuning, einem Kommunalpolitiker der SPD. Ich kannte ihn als Kind, vom Sehen zumindest. Sein Vater war viele Jahre Ortsvorsteher von Heimerzheim und, wie meine Mutter, aus Mülheim an der Ruhr vor Jahrzehnten zugezogen. Der Vater ist im vergangenen November infolge einer Erkrankung verstorben und konnte das Comeback seines Ortes nicht mehr miterleben. „Es geht langsam voran“, sagt sein Sohn. Langsam heißt wohl: Die Volksbank macht zwar nicht mehr auf, dafür hat der Juwelier schnell wieder geöffnet, auch der Restaurator nebenan, merkt Leuning anerkennend an, während der Blick auf den früheren Raumausstatter schweift, in dessen Ladenlokal jetzt ein Seniorenpflegedienst eröffnet hat. „Naja“, sagt er, ohne sich näher auszulassen. So ist das eben mit der Belebung von Dorfkernen abseits boomender Speckgürtel von Großstädten. Die großen Geschäfte für die noch größere Laufkundschaft kommen selten nach Heimerzheim.

Wir schlendern über den Frohnhof, benannt nach einem Hof, dessen Fachwerk-Hauptgebäude erhalten ist und einer Apotheke Platz bietet. Das historische Relikt wird instandgesetzt, der Apothekenbetrieb läuft nebenan in einem Container weiter. Dasselbe gilt für den Blumenladen und ein Café. Der griechische Imbiss zieht nach einem Jahr Foodtruck-Gyros zurück in sein frischsaniertes Ladenlokal, die Bäckerei, die mit ihrer Außengastronomie den Jahrzehnte ungenutzten Platz belebt hatte, macht allerdings nicht mehr auf. Der Optiker verkauft seine Brillen in mehreren Containern, auf der Webseite bedankt sich der Besitzer für die vielen Spenden: Er hatte in der Flutnacht alles verloren. Wo Altes weg ist, wird die Lücke schnell gefüllt: In der Parallelstraße scheint der wiedereröffnete Buchladen jetzt zwar weniger Bücher anzubieten, dafür kann man Lineale und Geodreiecke kaufen, die vorher beim Schreibwarenhändler zu bekommen waren. Wo es bis zur Flut eine weitere Apotheke gab, hat der stylische Friseur-Salon Shiyar eröffnet. Das Geschäftsleben in Heimerzheim erscheint jetzt vielfältiger.

An anderer Stelle ist der Ort ärmer geworden. Jahrzehntelang war die frühere Gaststätte „Frings“ im Ortskern Mittelpunkt dörflichen Lebens. Beerdigungen und Hochzeiten wurden hier begangen. Diese Dorfkultur ist ohnehin längst dahin, später war es eine verrauchte Kneipe, in die ich nie im Leben einen Fuß gesetzt hätte. Später, als auch diese Episode vorbei war, retteten andere Pächter die Lokalität vor dem Leerstand und den Ortskern damit vor dem Schicksal vieler Dörfer in der Region: auf mehrere chinesische folgte ein marokkanisches Restaurant. Doch die Betreiber gingen mit der Flut erst pleite und dann weg. Jetzt werden die Räume mit Hilfe staatlicher Fluthilfe saniert, erzählt Juniorbesitzer Thomas Trimborn, den ich beim Plausch auf der Straße kennenlerne. Ein neuer Pächter ist noch nicht gefunden.

Nicht weit davon, in einem der Container, sitzt Seyit Özer vor seiner Nähmaschine und arbeitet an einem Hemd. Der 68 Jahre alte Schneider hat nicht nur sein Ladenlokal verloren, fast wäre er in den braunen Wassermassen ertrunken. Als der Ort unterging, lag Özer auf dem Sofa seiner Schneiderei, wo er übernachten wollte, wie er das ab und an tut. Er schlief, als das Wasser hineindrückte, und erwachte erst, als es ihm buchstäblich bis zum Hals stand. Özer rettete sich auf einen Stuhl, wo er stundenlang stehend ausharrte, bis ihn die Einsatzkräfte in Sicherheit brachten. Ihm gehe es heute gut, erzählt er später lächelnd vor der Tür seines Containers, die Zigarette in der Hand. Er habe Glück gehabt. So wie Özer haben die Menschen das Wasser nicht kommen sehen, sie wurden nicht vorgewarnt. Die Wut darüber sitzt noch tief, so tief wie die Angst, dass es wieder passiert.

Diese Angst ist sichtbar: Gegenüber von Özers Schneidercontainer liegen Sandsäcke vor einer Eingangstür. Bei Facebook verbreitete sich vor einigen Wochen ein Video, das wieder Wasserlachen nach einem Regenguss zeigte – vor der „Linde“. „Es bricht schnell Panik aus“, sagt Tobias Leuning. Es ist die Angst vor abermaligem Kontrollverlust, manches davon real begründet, manches Folge erlebter Traumatisierung.

Anfänglich hatte es im Chaos der Aufräumarbeiten Plünderungen gegeben, in den sozialen Medien wurden Nachrichten mit verdächtigen Vorfällen weitergereicht, oftmals mit zweifelhaftem Wahrheitsgehalt. Zumindest das hat sich gelegt – und ist dem Unmut über angeblich zu langsame Reparaturarbeiten oder unzureichendes Krisenmanagement gewichen.

Der Wiederaufbau ist bürokratisch, und das ist den Menschen schwer zu vermitteln. Für die kommunale Infrastruktur der Gemeinde Swisttal, zu der Heimerzheim gehört, sind rund 1300 Ausschreibungsverfahren nötig, alleine um die Schäden zu begutachten, musste großer Aufwand betrieben werden. Manches wird priorisiert, andere Projekte wie die Wiederherstellung einer zerstörten Fußgängerbrücke in einem Wohngebiet hintenangestellt, zum Unmut mancher, die nicht verstehen, warum die kleine Gemeinde, das Land, der Staat nicht mehr tun kann. Es ist noch ein langer Weg, den Kommunalpolitiker wie Tobias Leuning ihren Nachbarinnen und Nachbarn erklären müssen, ohne selbst immer überzeugt zu sein. „Wir hoffen einfach, dass es dann aber mindestens so schön wird wie vorher“, sagt er. Darin steckt die Chance auf Modernisierung, die der alte Dorfkern gebraucht hat. Nicht zum Preis einer Katastrophe, natürlich nicht. Aber wenn sie schon geschehen musste, kann man jetzt zumindest versuchen, das Beste daraus zu machen. Auf ein Wiedersehen, Heimerzheim! (Martin Benninghoff)